Ich dachte immer, kritische Masse: das bin ich. Ein kleiner Teil davon, meine ich. Obwohl das nie eine schöne Vorstellung war. Für einen kritischen Geist hält man sich ja meist abends allein vor den Öffentlich-Rechtlichen.
Überhaupt sieht der Kritiker in meinem Kopf aus wie ein Einzelkämpfer.
Oder besteht Ihr auf die Frau Kritikerin? Gut, ich denke sie mir dazu. Sie ähnelt akustisch leider Frau Nahles. Das liegt wahrscheinlich daran, dass bei mir kritische Frauen eine Stimme haben. Kritische Männer nuscheln salbungsvoll wie Helmut Schmidt nach dem neunzigsten Geburtstag.
Vielleicht denken die Frauen: jetzt aber mal schnell und laut, bevor das junge Rederecht wieder weg ist. Während die Herren Kritiker Übung darin haben, alle Zeit der Welt für bedeutsam klingende Sätze zu nutzen. Nichts zum Nachmachen, wenn Ihr mich fragt.
Also das hübsche Gesicht der Linken in den Talkshows? Die einzige sachliche Position und Rede vielleicht. Ob uns ihre Sache gefällt oder nicht. Nur wird sie nicht deswegen eingeladen. Sie ist zum Kopfschütteln da: Wie kann eine attraktive Frau nur so verbiestert sein? Und: Was findet die bloß an dem alten Sozi? Wenn´s wenigstens der Gysi wär', dann käm´ Witz in die Affär'.
Aber mein kritischer Held ist wie gesagt ein Mann. Er sieht ein bisschen aus wie der „arme Poet“ von Spitzweg. Mit Kritik ist wenig Geld im Staat zu machen. Meine arme, kritische Socke steht wenigstens manchmal auf. Nachts, in der Dachkammer. Er macht eine Kerze an und arbeitet in Schlafanzug und Dämmerlicht an seiner Haltung. Den Spiegel hat er vom Nachbarn.
Tagsüber, in der echten Welt, sieht die Sache anders aus. Da trifft man ständig andere Teile der kritischen Masse. Die sind aber alle auch anderswie kritisch. Manche haben Zahlen im Kopf und Ereignisse aus der Geschichte, die weiter zurückliegen als mein letzter Urlaub auf Mallorca. Andere behaupten einfach irgendetwas oder fühlen es sehr deutlich. Es stimmt ja auch. Ohne Empörung ist Kritik ein Volkshochschulkurs, zu dem keiner geht.
Ich fange also von vorne an und lese nach. Leider ist die „kritische Masse“ ein Begriff aus der Kernphysik. Physik habe ich abgewählt, als wir auf der schiefen Ebene ankamen. Wenn ich es recht verstehe, geht es um ein Mindestmaß an spaltbarer Masse für eine stabile Kettenreaktion.
Die Marketing-Fuzzis haben das dann übernommen für ihr Geschäft. Nutella statt Uran. Wenn nämlich ungefähr 10 Prozent der Brotaufstrichler Nutella kaufen, werden das wahrscheinlich bald alle tun.
Entscheidend sind also nicht die alten 30 % Liebhaber von altehrwürdiger Erdbeermarmelade. Vereinzelte Fans der Quitte zählen auch nicht. Wichtig ist die Energie der Nutella-Neulinge.
Ich muss dabei an neue deutsche Alternativen mit alten Wurzeln denken. Die sind schließlich auch schwer kritisch. Stabile 10 % plus mediale Energiezufuhr. Das ist bedrohlich für Menschen mit demokratischer Heimat.
Andererseits spielt offenbar auch Zeit eine Rolle. Die andere, fast alte 10 % Partei ist aktuell und populär wie nie zuvor. Sie soll bestimmt die sommerlichen Temperaturen zuverlässig regulieren.
Die kritische Masse ist jedenfalls am Anfang eine kleine Minderheit. Plus Ausdauer, minus radikal, ergibt das vielleicht eine Erfolgsgeschichte. Ohne Gewährleistung.
Foto Susanne Santiago de Chile Plaza de Armas
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